Es ist unüblich für mich, in einen Text ohne Überschrift zu starten und ich mache ich zugegebenermaßen auch nicht gerne. Bei dem nun folgenden Text handelt es sich jedoch um einen besonderen. So besonders, dass ich die Überschrift noch nicht einmal mich traue an den Textanfang zu stellen. Es ist ein gesellschaftskritischer Text – und zwar womöglich in einer ganz anderen Dimension wie von mir bisher dagewesene.
Lieber Leser bitte verurteile mich nicht gleich wenn du die Überschrift gelesen hast. Lese dir den Text bitte erst komplett durch, denke darüber nach und fange dann erst mit dem Urteilen an. Es ist gut möglich, dass ich hier ein Nerv bei dir treffe, vielleicht sogar einen ziemlich schmerzhaften. Gebe dir dennoch die Mühe, die Sache differenziert zu betrachten, sonst nützt all die Arbeit nichts. Vielen Dank!
PS: Bitte beachte, dass die Überschrift, wie immer, den Leser überraschen und schockieren muss. Nur dann wird er den Text auch aufmerksam lesen. Also dann, los geht‘s.
Soll man psychisch kranke Menschen sterben lassen?
Eine Person, die ich etwas näher kenne wurde gestern Nacht in ein Krankenhaus gefahren. Sie ist nicht gestürzt, sie hat sich nicht den Finger an der Kreissäge abgetrennt und sie hat sich auch keine Rippe beim Kampfsport gebrochen. Sie hat sich geritzt. So stark, dass der zuständige Betreuer die Person per Krankenwagen in ein Krankenhaus hat fahren lassen müssen und sie genäht werden musste.
Als ich heute morgen davon erfuhr, stellte ich mir die Frage, ob man psychisch kranke Menschen nicht einfach sterben lassen soll.
Es ist eine Frage, bei welcher jeder Mensch, der unsere allgemeinene und hoffentlich genauso vertretene Moralvorstellung* besitzt erstmal „Wow! Stop! Nein, natürlich nicht!“ schreien sollte.
Ich bin jedoch der Ansicht, dass diese Frage ein bisschen gründlicher überdacht werden sollte, selbst wenn wir danach gezwungen sein sollten, unsere Moralvorstellung anzupassen.
Nehmen wir zunächst die Frage auseinander, damit wir überhaupt wissen, worum es geht und was ich überhaupt meine. Denn wie es schon in dem Buch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry heißt: „Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse“ - wir müssen also erklären, was wir meinen, wenn wir was sagen. Das fängt schon bei dem Begriff „psychisch kranker Mensch“ an. Ist ein psychisch krank, nur weil einen Gleichheitstick hat und müssen wir ihn deswegen sterben lassen? - Natürlich nicht, es geht hier auch nicht speziell um Menschen mit geistigen Behinderungen, Torisomerie 21 oder ähnlich, es ist etwas ganz generelles. Also gut, was ist „psychisch krank“? Wann ist man „psychisch krank?“.
Meiner Definition nach ist ein Mensch dann psychisch krank, wenn er es nicht mehr schafft, ein „normales“ Leben zu führen – soll heißen es nicht mehr schafft, in unserer Gesellschaft unterzukommen und mit ihr zurechtzukommen. So stark, dass im Endeffekt massive Defizite in dieser Gesellschaft hat.
Nehmen wir ein Beispiel, Bulimie: Ein Mensch mit Bulimie ist benachteiligt in unserer Gesellschaft. Es ist nicht nur ein für die meisten betroffenen Menschen ein unangenehmes Thema, es ist bei uns auch nicht akzeptiert, dass sich jemand den Magen füllt nur um ihn dann wieder auf dem schnellsten Wege zu leeren („Es hungern doch Menschen in Afrika!“ - was wiederum zu den Moralvorstellungen von uns gehört: Wir finden es schlecht, wenn wir Lebensmittel verschwenden und andere kein Essen haben). Die Person beginnt also im schlimmsten Falle, sich zurückzuziehen aus unserer Gesellschaft, schränkt ihren Freundeskreis ein usw., „nur“ weil Bulimie hat.
Ich verwende hier übrigens bewusst nicht Phrasen wie „Psychisch kranke Menschen sind nicht normal“, denn was ist schon normal? Normal ist nichts als der Durchschnitt. Was ist, wenn ein Mensch, der als „psychisch krank“ abgestempelt wird weil der denkt, dass 9/11 kein Terroranschlag war sondern von der Regierung geplant war recht hat und alle „Normale“ im unrecht liegen?
Aber wir schweifen ab.
Wir wissen nun, was ich meine, wenn ich „psychisch krank“ meine. Gehen wir zur nächsten Frage; sind wir verpflichtet solchen Menschen zu helfen?
Ich denke ja, wir sind verpflichtet. Aber nur bedingt.
Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass wir dann helfen, wenn wir sehen, dass die Person unter ihrer Erkrankung leidet. Haben wir also eine Person, die sich vor Trauer und Depression ritzen tut, ist es in unserer Pflicht (zumindest in meiner als Christ und hoffentlich auch in der eines jeden anderen!), dem Menschen zu helfen, damit sein leiden aufhört. Wir haben dann zu schauen, was für den Menschen machen können – mit ihm zu einer Therapie gehen, über seine Sorgen und Probleme reden, helfen sie zu lösen.
Es gibt aber auch psychische Erkrankungen, die dem Menschen nicht weh tun, ein kleiner Gleichheitstick zum Beispiel. Wenn die Person damit noch vollkommen gut leben kann, gibt es doch auch keinen Grund, an ihrem Zustand etwas zu ändern.
Jetzt wird es kniffelig, jetzt werden unsere Moralvorstellung und unsere Logik vermutlich kollidieren: Was machen wir mit einem Menschen, bei dem keine Therapie anschlägt, einem Menschen, dem es mit der Zeit immer und immer schlechter geht?
Ich kenne dieses Problem, die oben angesprochene Person ist eine solche. Ihre Eltern gehen seit Jahren von Therapeut zu Therapeut mit ihr, sie schicken sie in unterschiedliche Kliniken, zu den besten ihrer Art aber immer wieder kommt sie zurück und es geht ihr schlechter als zuvor. Es gibt nur eine Psychotherapeutin, welche über all die Zeit die besagte Person nicht aufgegeben hat und nach wie vor immer und immer wieder neue Ansätze ausprobiert (an dieser Stelle ganz kurz: Ich habe vor dieser Psychotherapeutin wirklich unheimlich viel Respekt. Sie arbeitet Tag und Nacht um Menschen zu helfen, selbst denen, wo jeder andere die Hoffnung aufgegeben hat). Aber auch hier: Keine Besserung. Es geht einfach abwärts.
Es ist ein unheimlich schlechtes und bedrückendes Gefühl eine Person zu sehen, die fast die ganze Zeit nur noch leidet und man selbst nicht die geringste Ahnung hat, was man dagegen tun kann oder wie man ihre helfen soll. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, das ich nicht mal meinem ärgsten Feind wünschen würde.
Hier kam bei mir die Frage auf, ob man die Person nicht einfach machen lassen sollte, einfach sie ihre Zwänge ausleben lassen sollte. Vermutlich würde sie daran sterben, vielleicht würde sie sogar Selbstmord begehen wenn man sie lassen würde. Das sind keine einfach gewählten Worte, ich rede nicht gerne so darüber, aber es trifft es einfach am besten – es ist nicht so, als ob die besagte Person nicht schon mehr als ernsthaft damit gedroht hätte. Mir stellt sich die Frage, warum wir nicht aufhören, zu versuchen in der Person unsere Vorstellungen eines „normalen Menschens“ zu verwirklichen. Würden wir die Person einfach lassen, würde der Person zwar nicht geholfen werden, dafür würde aber ein Teil des Drucks auf die Person nachlassen – denn Therapie macht Druck auf de Person, ist auch gut logisch. Die Therapie soll den „kranken“ Menschen dazu bringen, „normal“ zu sein. Dazu muss der Mensch aus seiner Komfortzone gebracht werden – wird das nicht gemacht, sieht er auch keinen Grund sich zu ändern.
Wenn man nun also die Hoffnung aufgibt, den „kranken“ Menschen zu heilen, sollte man auch die Therapie aufgeben. Was nützt es, jemanden zu therapieren, den man selbst für „unheilbar“ hält? Da wäre die Zeit ja doch besser genutzt, wenn man sich an neuen Patienten versucht, bei denen eine Chance auf Heilung besteht.
Ich verfolge das Prinzip des größten Gesamtwohls.
Hier ist es das Ziel, so viele Menschen wie möglich glücklich/zufrieden zu machen mit ihrem Leben. Wer nach diesem Prinzip handelt, muss einen „kranken“ Menschen, so traurig es auch ist, irgendwann aufgeben können, um auch anderen helfen zu können.
Es ist hier die Sprache vom Aufgeben der Hoffnung, das, wovor sich jeder der einen „psychisch kranken“ Menschen hat am meisten fürchtet. Auch ich habe davor große Angst aber ich weiß nicht, wie es sonst enden sollte. Es tut weh, einen Menschen aufzugeben, und das tun wir hier im Endeffekt, aber das ist so wie ich es sehe, die einzige Möglichkeit, für so viele Menschen wie möglich einen so großes Wohl wie möglich zu erreichen.
Ich bin der Ansicht, dass hier auch die Frage nach dem „lebenswerten Leben“ gestellt werden muss um entscheiden, ob man einen Menschen, der „krank“ ist aufgibt oder nicht. Die Frage nach was ein lebenswertes Leben ist und was nicht ist so groß, dass man vermutlich nochmal drei Seiten darüber schreiben könnte. Ich fasse mich kurz:
Auch ein kranker Mensch kann ein lebenswertes Leben haben, genauso wie ein gesunder Mensch nicht zwingend ein solches haben muss. Es ist immer abhängig davon, wie der Mensch mit seinem Zustand lebt. Es gibt Menschen, die kerngesund sind und dennoch der Ansicht sind, dass ihr Leben nicht dermaßen lebenswert ist während ich kranke Menschen kenne, die an ihrem Leben hängen wie wenig andere.
Wenn jetzt aber ein Mensch zu der Meinung kommt, dass sein Leben so nicht lebenswert ist und andere Menschen ihn nicht vom Gegenteil überzeugt kriegen, dann sollte man das auch akzeptieren können – egal wie schwer es ist. Was Lebenswert ist und was nicht hängt nicht von der Meinung Dritter, sondern von der persönlichen Meinung ab! Wir sind nicht dazu berechtigt, zu entscheiden, ob ein Mensch an seinem Leben zu hängen hat oder nicht. Es ist eine persönliche Entscheidung und die sollte von uns als Gesellschaft akzeptiert werden.
Wir müssen einen Mittelwert zwischen „helfen möchten“ und „akzeptieren müssen“ finden.
Wenn ein psychisch kranker Mensch also nach mehrfachen Behandlungsversuchen noch immer keine Besserung in seinem Leben sieht und beschließt, dass er so nicht weitermachen möchte, dann liegt es in meinen Augen sogar in unserer gesellschaftlichen Pflicht, den Menschen gehen zu lassen. Ich möchte an dieser Stelle wieder auf mein Christ-Sein zurückkommen: Ich bin verpflichtet als Christ anderen Menschen zu helfen. Es gilt nur zu schauen, wie wir einem Menschen tatsächlich helfen können. Wenn es einem Menschen hilft, ihn zur Therapie zu schicken, dann schicken wir ihn zur Therapie. Wenn es einem Menschen hilft, ihn einfach „leben zu lassen“, dann müssen wir ihn aber auch leben lassen! Auch wenn er damit untergehen sollte.
Soviel dazu.
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